08. Februar 2024 – Siegener Kulturszene in den 1950er bis in die frühen 1960er Jahre

Der Fachbereich Kunst der Universität Siegen, genauer gesagt die Abteilung Kunst und Künstlerische Strategien im öffentlichen Raum & kulturelle Bildung, Fakultät II, unter der Leitung von Prof. Johanna Schwarz, räumte am 31.01.2024 auf mit der Vorstellung, dass Siegen immer schon ein kulturloses Provinznest gewesen wäre. Der Siegener Historiker Dieter Pfau zeigte zum Einstieg in den Abend eine kurze Sequenz aus dem Film „Was ist schlimmer als verlieren – Siegen“, der diese Stadt 1996 abwertend und – man könnte fast sagen – abfällig beschrieb. Das gesamte Siegerland war ja über eine lange Zeit als „weit ab vom Schuss“ liegend bekannt, und wenn die A45 nicht gebaut worden wäre, könnte man sich heute vorstellen, dass das auch noch lange so geblieben wäre. Noch heute erinnert man sich mit einer Mischung aus Verärgerung und Belustigung über den Film.

Aber was war denn nun in den Nachkriegsjahren? Dieter Pfau hatte in den Tiefen der Vergangenheit gewühlt und Bemerkenswertes zutage gefördert, das nicht dem Vergessen anheimfallen sollte. In der Nachkriegszeit, in den 1950er bis in die frühen 1960er Jahre, herrschte hier nämlich Aufbruchstimmung. Man wollte die dunklen Zeiten hinter sich lassen, und so entwickelte sich eine kleine, aber feine Kulturszene, die bundesweit Schlagzeilen machte. Pfau gab den zahlreich erschienenen Besuchern einen Einblick in seine Arbeit. Er erinnerte an Heinrich Vormweg, der in diesen Jahren Literatur- und Theaterkritiker, Essayist, Rundfunkautor sowie freiberuflicher Journalist war. Vormweg, der am FJM sein Abitur gemacht hatte, war befreundet mit dem Schriftsteller, Herausgeber und Journalisten Peter Härtling, der ihn anfangs für einen Siegburger hielt. Vormweg klärte ihn auf und stellte Siegen gegenüber Siegburg als doch um einiges bedeutender heraus, hatte Siegen doch schließlich Rubens und eine renommierte Industrielandschaft zu bieten.

Als gebürtigem Geisweider war Heinrich Vormweg bewusst, dass Siegen und das Siegerland religiös geprägt und gleichzeitig durch Industrie und Handwerk relativ wohlhabend geworden waren. Diesen offensichtlichen Zusammenhang, wie Calvinismus und Kapitalismus einander bedingen, beschrieb er in seinem Essay „Gottes eigenes Geld“. Auf den Punkt gebracht: „Die Besitzenden sind die Auserwählten“! Pfau untermalte diesen Teil des Vortrags mit einer Reihe von Fotos aus den Nachkriegsjahren der Versammlungsstätten, die zum großen Teil heute noch dort sind, wo sie früher waren.

Der Calvinismus tat der kulturellen Weiterentwicklung der Stadt Siegen in den 1950er und 1960er Jahren aber keinen Abbruch. Siegen gehörte zu den kulturellen Hotspots der frühen Bundesrepublik. Die teils avantgardistische Kulturszene machte mit den “Siegener Schloßspielen”, den „Gesprächen über der Treppe“ in der Buchhandlung Nohl und den „Decollagen“ Reinhold Köhlers bundesweit von sich reden. Die Auswahl an Büchern bei Ruth Nohl war ebenbürtig mit dem Angebot in den Großstädten der Republik und „Journalismus trifft Wissenschaft“ war eine Verlockung für die Siegener, sich endlich mit sinnstiftenderen Dingen zu beschäftigen als mit Krieg und Elend. Man wollte nach vorne schauen. Damals wurden die Grundlagen für die heutige Kulturlandschaft gelegt.

Während dieser kulturell fruchtbaren Jahre entstanden unter der Ägide von Willy Schommer zum Beispiel der Siegerländer Monatsspiegel und „Siegerland im Bild“. Allein die Titelseiten waren schon Kunst! Ein Vorläufer des heutigen „Siegener Sommer“ waren in diesen Jahren die Siegener Schloßspiele. Weiteres Beispiel: Die Hilchenbacher Orchesterschule wurde von Friedrich Deisenroth gegründet, aus der später das Siegerland-Orchester entstand, das heute Philharmonie Südwestfalen heißt und erst kürzlich von Hilchenbach in die Siegener City umgezogen ist: in das neuerbaute „Haus der Musik“ an der Oranienstraße.

Das Schlossgartenfest zog 40.000 Besucher magisch an, und der junge Regisseur Claus Peymann inszenierte „Antigone“, das am Oberen Schloss aufgeführt wurde. Peymann machte Karriere, ging zum Wiener Burgtheater und zum Berliner Ensemble.

Älteren Siegenern wird die Buchhandlung Nohl in der Kölner Straße noch in guter Erinnerung sein. Der schmale, lange Raum mit der Treppe, Frau Nohl in elegantem Kostüm und mit akkurat geformter “Banane”-Frisur, die hochkarätige Auswahl an vorrätigen Büchern, die Innenraumgestaltung durch die Künstler Theo Meier-Lippe und Reinhold Köhler… Und die Buchhandlung Nohl war ja nicht die einzige… Siegen liest!

Der Siegener Verkehrsverein, der von 1920 bis in die 1960er Jahre existierte, war 1955 der Initiator des auch heute immer noch vergebenen Rubens-Preises der Stadt Siegen. Neben einem Kunstpreis der Stadt Düsseldorf war der Rubens-Preis damals der einzige seiner Art in der ganzen Bundesrepublik! Aktive Künstler sollten damit ausgezeichnet werden. Siegen war also Vorreiter in Sachen Moderne Kunst, auch wenn nicht jeder mit den Werken von Hans Hartung und Giorgio Morandi etwas anfangen konnte – oder wollte.

Im Jahr 1955 begannen die Planungen für die Siegerlandhalle, 1957 für das Leimbachstadion (der Sport ist ja auch ein Teil der Kultur, also: nicht vergessen!) und 1964 für die Bühne der Stadt Siegen, die Konzertbühne und gleichzeitig über Jahrzehnte auch die Aula des Löhrtor-Gymnasiums war.

Dieter Pfau erinnerte an so manche Persönlichkeit der Stadt, so auch an Bert Brösel, den Fotografen der Firma Waldrich, der zum Beispiel bei der Vorbereitung zur 750-Jahr-Feier der Stadt mitwirkte.

Ende der 1960er Jahre entstand jedoch ein „Loch“ in der Kulturentwicklung der Stadt, und erst Anfang der 1990er Jahre kam wieder Schwung in die Kultur. Kreiskulturdezernent Wolfgang Suttner zum Beispiel kam 1991 auf die Idee mit dem KulturPur-Festival auf der Lützel (“A place in the middle of nowhere”, sagte Bob Geldof bei seinem Auftritt), das bis heute viel Publikum anlockt. 1996 wurde das Kulturzentrum des Kreises, das „LŸZ“, gegründet – hier finden u. a. Kabarett-, Theater- und Musikveranstaltungen statt. Suttner gelang 1999 ein Coup: die Ausstellung mit Gemälden von Paul McCartney, die weltweit Aufsehen erregte. Das Museum für Gegenwartskunst entstand 2001, und 2007 wurde das Apollo-Theater nach langer Phase des Leerstands oder Nutzung als Kino wieder zum Leben erweckt. Initiator war damals Walter Schwerdfeger.

Zum Abschluss sei hier noch das Werk von Reinhold Köhler erwähnt. Er erfand 1948 die Décollage oder Abreiß-Bild. Die Weiterentwicklung war die Contre-Collage, ein Bild aus zerschmettertem Glas. Nicht jeder war sofort Fan dieser Kunstwerke. Andere zeigten sich sogleich von diesen neuen Techniken begeistert. Erst 2019 fand eine Retrospektive im Oberen Schloss statt. Die Ausstellung konzentrierte sich auf Konservendrucke, zerschlagene Teller und Flaschen sowie “Contratexte”, spiegelbildlich angeordnete abstrakte Texte.

In der anschließenden Diskussion machte der frühere Kreisdirektor Winfried Schwarz darauf aufmerksam, dass er den Slogan “Siegen – Provinz voll Leben” lanciert hatte, der aber leider im Laufe der Zeit – fast wie weiland der Filmtitel – Siegen und das Umland etwas despektierlich ins Licht rückte, weil er zweckentfremdet verwendet wurde.

Wer hier lebt und sich in der Kulturszene bewegt, dem dürfte allerdings klar sein, dass hier ordentlich was los ist. Man muss halt nur hingehen.

31. Januar 2024 – Wandertalk Nr. 4

Provinz im Aufbruch. Siegens vergessene Kulturgeschichte.

Bis vor wenigen Jahren haftete an der Stadt Siegen das Ettikett der kulturellen Provinz – trotz der Eröffnung des Museum für Gegenwartskunst (2001) und des Apollo-Theater (2007). Der 1996 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienene Beitrag „Was ist schlimmer als verlieren? Siegen“ hallte in der bundesdeutschen Öffentlichkeit immer noch nach. Das zum Stereotyp geronnene Ettikett war das Produkt eines intellektuellen Diskurses, das sich gegen alle Widersprüche über mehr als vier Jahrzehnte hartnäckig halten konnte.

Der Vortrag des Historikers Dieter Pfau führt zurück in die Siegener Kulturgeschichte der ersten Nachkriegsjahrzehnte. In den 1950er und 1960er Jahren gehörte die Stadt Siegen zu den kulturellen Hotspots der frühen Bundesrepublik. Eine kleine, in Teilen avantgardistische Kulturszene machte mit den Siegener Schlossspielen, den „Gesprächen über der Treppe“ in der Buchhandlung Nohl und den Decollagen Reinhold Köhlers bundesweit von sich reden. Der kultursoziologisch bedenkenswerte, an die Max-Weber-These angelehnte Essay über „Gottes eigenes Geld“ des Journalisten Heinrich Vormweg stand am Anfang des Diskurses, der in das Vorurteil der „kulturellen Provinz“ mündete und eine beträchtliche Wirkung entfaltete.

Wandertalk #4

Der Historiker Dieter Pfau wird Siegens Kulturgeschichte seit den 50er Jahren reflektieren und das Vorurteil der kulturellen Provinz unter die Lupe nehmen.

Wann und wo? 18 Uhr, Spandauerstr. 40, Siegen

Mehr zu Dieter Pfau: https://www.zeitspuren-siwi.de/dieter_pfau.html